Sektion 2: Krisen des Imperiums: Utopie, Dystopie, Rewriting

Sektionsleitung

Sektionsbeschreibung

Das Imperium, eine Idee der Antike, erklärt seine Ordnung für ewig und versucht, sich auszudehnen „as a regime with no temporal boundaries and in this sense outside o history or at the end o history" (Hardt/ Negri 2001: XV). Unterdessen leugnet es die ihm inhärenten Krisen und Zusammenbrüche.

Angesichts des „Scheiterns“ seiner Nation als geopolitische Großmacht forderte Fernando Pessoa in Mensagem (1934) die Errichtung eines geistigen Imperiums, das sich der Propagierung seiner Kultur und Sprache verpflichtet sah, um dadurch den Fortbestand Portugals in seiner global expansiven Qualität zu sichern. An eben solche historischen Prozesse nähern sich künstlerisch-kulturelle Manifestationen an, um sie neu zu lesen. Grada Kilomba analyisert in O barco (2021) – zugleich Skulptur, Installation, Performance und Gedicht – Auslöschungsprozesse semantisch-visueller Sprache, die das portugiesische Imperium vornahm; das aktivistische Musikkollektiv Fado Bicha überschreibt Amálias legendären Fado als Lisboa, não sejas racista (2019).

Michel Foucault (2003) zufolge führten die Kolonisierung und ihre Projektion zu „real existierenden Utopien", etwa die der christlichen Missionen, die einen paradiesischen Staat erschaffen sollten. Bald darauf bezeichneten Denker wie Pater Vieira ebensolche Utopien und ihre Begleiterscheinungen als die „wahre Krankheit" Brasiliens und anderer kolonisierter Gebiete (A. Vieira 1998). Native Zeugnisse wie jenes der Guarani von 1630 prangerten, entgegen Foucaults Konzept, koloniale Unternehmungen avant la lettre als „real existierende Dystopien“ an, die Krisen ungekannten Ausmaßes verursachten (Lienhard 1992). Krisen sind – ebenfalls seit der griechischen Antike – als gesellschaftlich-medizinische Diagnosen allgegenwärtig. Imperiale Körper und Entitäten, die sich a priori in einem ständigen Zustand des Mangels und der Not befinden, werden von interner und externer Stelle bewertet; dennoch versprechen Prognosen und Therapien nicht immer Besserung (Koselleck 1997; Esposito 2002). Daher birgt das kritische Potenzial von Krisen Wendepunkte, so wie der Expansionismus des 16. Jahrhunderts, als Portugal mit der christlich-mittelalterlichen Weltsicht brach, um sich als globales militärisches, sprachliches und kulturelles Imperium neu zu inszenieren. Dabei hinterließ es ein sprachliches Erbe, das die Kolonialität der Macht, des Wissens und des Seins nachhaltig prägte (Vignolo/ Becerra 2011; Quijano 2014).

Ausgehend von diesen Überlegungen untersucht diese Sektion die historischen emplotments (White 1973), also narrativ-imaginäre Verknotungen, von Krisen des portugiesischen Imperiums und seiner langen Nachbeben. Besonders im Vordergrund stehen dabei die Utopien und Dystopien, oder utopischdystopische Überschneidungen, die die lusophone Kulturproduktion generierte. So greift der indigene Aktivist Ailton Krenak (2019) auf den Tropus des apokalyptischen „Weltuntergangs“ zurück, um laut verkündete oder verschwiegene koloniale bzw. neoliberale Unternehmungen aufzudecken, die, in den Worten der Lusíadas, Amerika, Afrika und Asien störten, verstörten, zerstörten: „[A]s terras [do Nouo Reino] / De Affrica & de Ásia, andarão deuastando“ (Camões 1572: A1). Akademische Trends wie Dekolonisierung und Ecocriticism zeigen die Aktualität eines epistemischen Erbes auf, das auf solche Weise domestiziert werden sollte, und weisen auf die kolonialen Ursachen gegenwärtiger Krisen hin, die nun dringend, so lautet der Tenor, neu gedacht und umformuliert werden müssen. Der von Krenak geforderte „Aufschub“ des (indigenen) Weltuntergangs besteht also darin, zukünftigen oder vergangenen „real existierenden“ oder vorstellbaren Dystopien zu widersprechen, um von westlichen soziopolitischen und kulturellen Kräften verursachte globale Krisen abzufedern - etwa mit alternativen Wissensformen, die sich außerhalb des Imperiums situieren. In dieser Linie argumentieren auch literarische und theoretische Texte wie Metade cara, metade máscara (2004) von Eliane Potiguara und Uma ecologia decolonial: pensar a partir do mundo caribenho (2022) von Malcom Ferdinand.

Die – notwendige – Krise der königlichen oder nationalen Macht trifft im 21. Jahrhundert schließlich auf Projektionen einer „Zukunft als Katastrophe“ (Horn 2014), welche fiktionale Universen beherrscht. In der heutigen lusophonen Welt wurden Ideen von Entwicklung und Hoffnung durch einen gefährlichen, unruhigen Raum ersetzt; seit der weltumfassenden sozioökonomischen Krise von 2008 drängten Dystopien utopische Vorstellungen immer weiter in den Hintergrund. Katastrophale Zukunftsvisionen pulsieren im Tagesgeschehen und formen den neuen Zeitgeist. Dieser dominante „Dystopismus“ (P. Vieira 2022: 25) spiegelt sich in Romanen wie Cadernos da Água (2022) von João Reis, in dem die Wasserknappheit bald zu Rationierungen und Krieg führt.
Diese Sektion diskutiert imperiale Utopien, Dystopien und ihre Rewritings, wie sie in krisenhaften Wendepunkten auf den vier Kontinenten der sogenannten Lusophonie auftauchen. Folgenden Fragen können bedient werden:

- Inwieweit verarbeitet künstlerischer Ausdruck die durch das Imperium verursachten Krisen, aber auch die Krisen, die das Imperium selbst in seinen Grundfesten erschüttern?
- Welche Dystopien und Utopien, einschließlich „messianischer Hoffnungen“ und „Nostalgien der Zukunft“, erzeugen die Krisen des Imperiums in den kulturellen Praktiken der Lusophonie?
- Mit welchen ästhetischen Strategien breitete sich das portugiesische Imperium aus, und wie und von welchen Positionen aus werden imperiale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgeschrieben?

Wir begrüßen transdisziplinäre Beiträge und künstlerische Interventionen zum Thema (z.B. Literatur, Film, Performance, Graffiti, Musik, Fotografie, bildende Kunst, grafische Erzählungen, u.a.).

Camões, Luis Vaz de (1572): Os Lvsíadas. Lisboa: Antonio Gonçaluez Impressor.

Esposito, Roberto (2002): Immunitas: Protezione e negazione della vita. Torino: Einaudi.

Ferdinand, Malcolm (2022): Uma ecologia decolonial: pensar a partir do mundo caribenho. São Paulo: Ubu.

Foucault,  Michel (2003):  “Andere  Räume”, übersetzt aus dem Französischen von  Walter  Seitter, in:  Moravánszky,  Ákos  (ed.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert: Eine kritische Anthologie. Wien: Springer, 549-556.

Hardt, Michael/ António Negri (2001). Império, übersetzt von Berilo Vargas. São Paulo: Record.

Horn, Eva (2014): Zukunft als Katastrophe. Warum wir unsere Zukunft schwarz malen. Frankfurt am Main: Fischer.

Kopenawa, Davi / Bruce Albert (2010): A queda do céu. Palavras de um xamã yanomami, übersetzt von  Beatriz Perrone-Moisés. São Paulo: Companhia das Letras.

Koselleck, Reinhart (1997): “Krise,” in: Koselleck, Reinhardt/ Walther, Rudolf (eds.): Geschichtliche Grundbegriffe, vol. 3, Stuttgart: Klett-Cotta, 617–650.

Krenak, Ailton (2019): Ideias para adiar o fim do mundo. São Paulo: Companhia das Letras.

Lienhard, Martin (ed.) (1992): Testimonios, cartas y manifiestos indígenas. (Desde la conquista hasta comienzos del s. XX). Caracas: Biblioteca Ayacucho (Biblioteca Ayacucho; 178).

Pessoa, Fernando (1934): Mensagem. Lisboa: Parceria António Maria Pereira.

Potiguara, Eliane (2004). Metade cara, metade máscara. São Paulo: Global.

Quijano, Aníbal (2014). “Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina”, in: Assis Clímaco, Danilo (ed.): Cuestiones y horizontes. Antología esencial. De la dependencia histórico-estructural a la colonialidad/descolonialidad del poder. Buenos Aires: CLACSO, 777-832.

Reis, João (2022): Cadernos da Água. Lisboa: Quetzal.

Vieira, Antônio (1998). Sermões completos. Erechim, RS: Edelbra.

Vieira, Fátima (2014). “Utopian Studies in Portugal”, in: Utopian Studies 27,  2, 250-267.

Vieira, Patrícia (2022):  “Utopia”, in: Marks, Peter/ Wagner-Lawlor, Jennifer A./ Vieira, Fátima (eds.): The Palgrave Handbook of Utopian and Dystopian Literatures. Cham: Palgrave, 25-38.

Vignolo, Paulo/ Becerra Becerra, José Virgilio (eds.) (2011): Tierra Firme: El Darién en el imaginario de los conquistadores. Bogotá: Universidad Nacional de Colombia.

White, Hayden (1973): Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

  • Emiliano Dantas (ISCTE-Instituto Universitário de Lisboa)
    Mylena de Lima Queiroz (Universidade Federal de Campina Grande)