Sektion 7: Die Ausdehnung der klassischen Mythen in der epischen Erzählung

Sektionsleitung

Sektionsbeschreibung

Die Rezeption der klassischen Kultur in der portugiesischsprachigen Literatur ist ein Forschungsfeld, das bereits eine gewisse Tradition innehat (vgl. für die neusten Publikationen die Anthologien von Morão/Pimentel). Ein zentraler Aspekt dieser Rezeption ist die Verwendung von Mythologie, was Gegenstand von Arbeiten zu einzelnen Werken und einigen Überblicksdarstellungen ist (Melo 2000), die im Allgemeinen auf bestimmte Zeiträume konzentriert sind (Alves 2001, Ferreira/Dias 2004, Melo 2004, Pena 2007, Gonçalves 2020).

Unsere Sektion versucht, den historischen Rahmen der Studie über die Verwendung der klassischen Mythologie in der lusophonen Literatur zu erweitern, wobei der Schwerpunkt auf einer spezifischen Situation liegt: Es geht darum, wie die klassischen mediterranen Mythen durch die epische Erzählung auf die Räume der portugiesischen Expansion übertragen und angepasst werden. Konkret wird dabei diskutiert, wie im epischen Erzählen eine Ausdehnung der Mythen stattfindet – im Sinne einer Erweiterung ihrer räumlichen Koordinaten über den Mittelmeerraum hinaus –, wenn die Räume der portugiesischen Expansion fiktionalisiert werden. Unter ‚epischen Erzählungen‘ verstehen wir solche, die explizite inter- oder architextuelle Beziehungen zur Tradition der klassischen Epik – und/oder (durch Ableitung) der Renaissanceepik – herstellen, und zwar in verschiedenen Gattungen: episches Gedicht, Roman, Kurzgeschichte und Novelle, Geschichtsschreibung, Reiseberichte usw., einschließlich ihrer komischen oder parodistischen Formen.

Eine der Annahmen dieser Tradition ist die Verwendung von Mythen. Durch sie wird ein intertextueller Dialog aufgebaut (Silva 2000), der die Relevanz der klassischen Tradition im literarischen Feld bestätigt, den neuen Texten Prestige verleiht und somit eine Beziehung der Kontinuität und Zugehörigkeit herstellt.

Klassische Mythen bilden ein System traditioneller Erzählungen über „denkwürdige und paradigmatische Handlungen außergewöhnlicher Figuren“ (García Gual, 1997: 9), die in einer vergangenen Zeit stattfanden, aber als entscheidend für die Ordnung der Welt angesehen werden. Diese Berichte sind durch eine ausgeprägte Räumlichkeit gekennzeichnet: Sie sprechen von Reisen, Gebietsbesetzungen und Stadtgründungen; sie nehmen Bezug auf Toponyme, auf Fauna, Flora, Landschaft und Techniken und bringen sich mit lokalen Kulten und anderen Praktiken in Verbindung (Dowden 1992).

Obwohl sie Bilder von unbekannten Welten enthalten, verbindet der räumliche Aspekt der Mythen sie mit einer kulturellen Geographie, die der mediterranen Welt in der Antike gemeinsam war, und verwandelt sie zu Faktoren für die Konstruktion eines Gefühls der Einheit. Als die portugiesische Renaissance die Verbindungen zu dieser Welt sucht, schlägt sie eine nationale Identität vor, die auf der Einbeziehung der Vergangenheit des Territoriums des Königreichs in die Räumlichkeit der Mythen begründet ist: Die Reise von Luso (oder Lysa) und die Gründung von Lusitania werden der Berührungspunkt und der Schauplatz des Ursprungs sein.

Parallel dazu brachten die Navigation und die Kolonisierung die Erfahrung von Räumen außerhalb des Mittelmeerraums mit sich. Die Textualisierung dieser Erfahrung sollte auf die Herausforderung reagieren, ein neues Bild der Welt zu entwerfen, das neuen Kontexte und Begegnungen inszeniert und erklärt, eine Initiative, die in der epischen Poesie eine privilegierte Stellung findet (Friedlein 2014).
Die klassischen Mythen werden Teil des Repertoires, das mobilisiert wird, um diese Textualisierung zu begründen. Die Integration der neuen Räume bewirkt eine Ausweitung der räumlichen Gewebe der Mythen, eine Ausdehnung, eine Art symbolisches Gegenstück zu der Eroberung und Kolonisierung. Im weiteren Verlauf – von den Epen der Kolonialzeit über die romantischen Versuche, die klassische Mythologie durch lokale Bezüge zu ersetzen, die großen historischen und geografischen Panoramen des Epos der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Pessoas Mensagem bis hin zu den epischen Erzählungen des 20. und 21. Jahrhunderts – wird das Phänomen der Ausdehnung der Mythen neue Gestalt annehmen und den Mythen vielfältige Ausgestaltungsmöglichkeiten, Funktionen und Bedeutungen verleihen.

Als Ausgangspunkt für eine genauere Betrachtung können bei der Ausdehnung der Mythen drei Prozesse identifiziert werden:

1. Übertragung

Eine Übertragung liegt vor, wenn der Rahmen der klassischen Mythologie an einen neuen Kontext angepasst wird, um dessen neuen Anforderungen gerecht zu werden. Ein Beispiel dafür ist die Aufführung der Gottheiten in Os Lusíadas (1572), durch die, als die Götter, die Funktion des Wunderbaren annehmen, Camões eine Umgestaltung der Götter durchführt:

Bacchus zum Beispiel wird als griechischer Gott aus dem Osten als Hindernis auf der portugiesischen Reise nach Indien übertragen. Die Übertragung erfolgt jedoch auch auf der rhetorisch-poetischen Ebene, durch Vergleiche, Bilder und Verweise, die ein Werk mit der mythologischen Symbolik verbinden –- ein Beispiel dafür ist das brasilianische romantische Epos A Confederação dos Tamoios (1856): Obwohl es den indigenen Aufstand im 16. Jahrhundert dramatisiert, verweisen viele seiner Vergleiche auf die klassische Mythologie. Die Transposition kann sich als komplementärer Prozess zu den beiden folgenden Prozessen manifestieren.

2. Schöpfung

In diesem Fall wird der epische Intertext durch die Mobilisierung eines Themas oder einer narrativen Funktion aus der klassischen Tradition (Helden, Wunderbares, Metamorphose, Reise, Katabasis usw.) konstruiert, die jedoch durch einen neuen Mythos gefüllt wird, der in keinem bereits bestehenden Repertoire enthalten ist. Es handelt sich um einen Prozess der Nachahmung (oder Parodie) der klassischen Mythologie. Dies ist der Fall des Riesen von Nicteroy: metamorfose do Rio de Janeiro (1822) von Januário da Cunha Barbosa.

3. Eingliederung

Hier wird die Übertragung bzw. der intertextuelle Prozess für die Fiktionalisierung von Mythen genutzt, die bereits Teil eines anderen kulturellen Repertoires sind. Der nicht-klassische Mythos (unabhängig davon, ob er aus dem Raum der Expansion stammt oder nicht) wird integriert, indem er eine Position einnimmt, die in der Tradition einem klassischen Mythos zugeschrieben wird. Dies ist beispielsweise der Fall bei dem Vergleich von Ogun mit Prometheus in Mayombe (1980) von Pepetela. Auch im 8. Gesang von O Guesa (1857-1884?) erlebt der Held, der aus der indigenen Mythologie stammt, eine parallele Situation zu der des schiffbrüchigen Odysseus. In gleicher Weise problematisiert der ‚faustische Pakt‘ von Grande sertão: veredas (1956) das Wunderbare.

Wir laden die Sektionsteilnehmer*innen ein, die Grenzen und Überschneidungen der aufgeführten Ausdehnung zu beobachten und sich dabei eine Reihe von Fragen zu stellen, die bei der Analyse einzelner Texte oder einer Textgruppen behandelt werden könnten: Welche Mythen werden evoziert und wie werden sie funktionalisiert? Wie verhalten sich traditionelle Funktionalisierungen wie die Allegorie und die rhetorische Ausschmückung? Wie gestaltet sich die Verwendung von Mythen in den verschiedenen Erzählgattungen (erzählendes Gedicht, Roman usw.), literarischen Epochen oder Nationalliteraturen? Welche Werke werden für die Konstruktion der intertextuellen Gewebe herangezogen und wie geschieht dies? Welche Rolle spielen die Mythen in der Konstruktion der Elemente der epischen Tradition (die Heroizität, das Wunderbare, der Kampf, die Reise, die Metamorphosen)? Wie verhält sich die klassische Mythologie zu anderen Diskursen und Wissensbeständen (religiöser, historiographischer oder philosophischer Art)?

Die Verwendung der Mythologie in der Fiktionalisierung der Expansionsräume zieht sich durch die Geschichte der epischen Produktion in den verschiedenen Räumen der Lusophonie und ermöglicht die Skizzierung von Überblicken und die Verwendung von Ansätzen, die auf dem analytischen Instrumentarium des ‚spatial turn‘ und der postkolonialen Theorie beruhen.

Durch die Diskussion der Ausdehnung der Mythen soll in dieser Sektion eine der Möglichkeiten untersucht werden, wie die portugiesische Sprache durch ihre Literaturen zur globalen Verbreitung von lokalen kulturellen Inhalten beigetragen hat.

Alves, Hélio J. S. (2001). „Parte IV - O maravilhoso, forma e figuração”, in: Camões, Corte-Real e o sistema da epopeia quinhentista. Coimbra: Centro Interuniverstário de Estudos Camonianos.

Dowden, Ken (1992): The uses of Greek mythology. London: Routledge.

Ferreira, José Ribeiro/ Dias, Paula Barata (eds.) (2004): Fluir perene: a cultura clássica em escritores portugueses contemporâneos. Coimbra: Imprensa da Universidade; Minerva.

Friedlein, Roger (2014): Kosmovisionen: Inszenierungen von Wissen und Dichtung im Epos der Renaissance in Frankreich, Portugal und Spanien. Stuttgart: Franz Steiner.

García Gual, Carlos (1997). Diccionario de mitos. Barcelona: Planeta.

Gonçalves, Willamy Fernandes (2020): “De diis gentium: o tratamento da mitologia grega na literatura portuguesa entre a Idade Média e o Renascimento”, in: Nuntius Antiquus 16, 2, https://doi.org/10.35699/1983-3636.2020.24233

Melo, António Maria Martins (ed.) (2000): Actas do Symposium Classicum I Bracarense “A mitologia Clássica e a sua Recepção na Literatura Portuguesa”. Braga: Centro de Estudos Clássicos da Faculdade de Filosofia de Braga.

Melo, Antonio Maria Martins (2004): “A mitologia clássica no Humanismo do Renascimento português”, in: Ágora: estudos clássicos em debate  6, 167-191.

Morão, Paula/ Pimentel, Cristina (eds.) (2012): A literatura clássica ou os clássicos na literatura: uma (re)visão da literatura portuguesa das origens à contemporaneidade. Lisboa: Campo da Comunicação.

Morão, Paula/ Pimentel, Cristina (eds.) (2014): Matrizes clássicas da literatura portuguesa: uma (re)visão da literatura portuguesa das origens à contemporaneidade. Lisboa: Campo da Comunicação.

Morão, Paula/ Pimentel, Cristina (eds.) (2017): A literatura clássica ou os clássicos da literatura: presenças clássicas nas literaturas de língua portuguesa. Vol. III. Lisboa: Campo da Comunicação.

Morão, Paula/ Pimentel, Cristina (eds.) (2019): A literatura clássica ou os clássicos na Literatura. Volume IV: Presenças clássicas nas literaturas de língua portuguesa. Lisboa; V. N. de Famalicão: Centro de Estudos Clássicos (FLUL); Edições Húmus.

Morão, Paula/ Pimentel, Cristina (eds.) (2021): A literatura clássica ou os clássicos na literatura. Volume V: Presenças clássicas nas literaturas de língua portuguesa. Lisboa; V. N. Famalicão: Centro de Estudos Clássicos; Edições Húmus.

Pena, Abel N. (2007): Mythos: actas do colóquio “Mito, literatura, arte: mitos clássicos no Portugal quinhentista”. Lisboa: Centro de Estudos Clássicos; Faculdade de Letras de Lisboa.

Silva, Vítor Aguiar e (2000): “A poética do mito clássico n’Os Lusíadas”, in: Rodríguez, José Luis (ed.): Estudos dedicados a Ricardo Carvalho Calero, volume 2. Santiago de Compostela: Parlamento de Galícia; Universidad de Santiago de Compostela, 681-689.

  • Helio Alves (Universidade de Lisboa)
  • Regina Zilbermann (Universidade Federal do Rio Grande do Sul)